27.05.2011
Libyen-Krieg und Bundeswehrreform
von Uli Cremer und Wilhelm Achelpöhler
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mit Fußnoten
Viele meinen, dass erstens der Libyen-Krieg seitens der westlichen
Staaten wegen der Wahrung der Menschenrechte geführt
werde und zweitens dass das auch unbedingt notwendig wäre.
Entsprechend sei die deutsche Stimmenthaltung bezüglich
der Ermächtigungsresolution zum kriegerischen Eingreifen
durch den UN-Sicherheitsrat völlig verkehrt gewesen.
Diese Haltung ist naiv. Die weltpolitischen Realitäten
sind so, dass (auch) die westlichen Staaten immer nur dann
kriegerische Maßnahmen ergreifen, wenn es ihren Interessen
bzw. denen der jeweiligen Regierungen nützt.
Wenn die Menschenrechte den westlichen Staaten tatsächlich
so wichtig wären, hätten längst weitere Kriege
begonnen werden müssen: Angriffe auf Syrien, Saudi-Arabien,
Jemen und Bahrein wären das Mindeste gewesen. Stattdessen
ließ man in Bahrein sogar eine Intervention des Golf-Kooperationsrats
zu, um die Opposition niederzuhalten. Mitglied dieses Rates
ist auch Katar, das im Libyen-Krieg auf Seiten von NATO und
Aufständischen kämpft. Demonstrativ empfing der
britische Premier Cameron, einer der humanitär-interventionistischen
Kriegsherren, am 20. Mai 2011 den Kronprinzen von Bahrein,
der anders als Gaddafi, nicht in Den Haag angeklagt ist. Auch
die in Bahrein stationierten US-Truppen rührten keinen
Finger, um den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen.
Eine besondere Pointe ist, dass Saudi-Arabien Ägypten
Finanzhilfe anbietet, das aber mit nur »für den
Fall…, dass Mubarak und seine Frau in den Genuss von
Straffreiheit kämen.« Wie kaum ein anderer Konflikt
ist der Libyen-Krieg ein Beispiel für die machtpolitische
Konkurrenz zwischen den Mächten dieser Welt.
Von der Mittelmeer Union zum Libyen-Krieg
Frankreich müsse sich erinnern, »dass es eine
Macht im Mittelmeerraum ist« erklärte Präsident
Nicolas Sarkozy schon 2007 bei Begründung seines Projekt
einer »Mittelmeer Union«. »Dem wachsenden
Einfluss der nord- und osteuropäischen Länder sollte
ein südlicher Schwerpunkt entgegengesetzt werden, mit
Frankreich als Führungsmacht,« analysierte die
FAZ. Solch ein Angriff auf die deutsche Machtposition in der
EU würde »den Zerfall Europas provozieren«,
war die harsche Reaktion der deutschen Kanzlerin. Aus der
Mittelmeer-Union wurde ein Projekt der EU: »Merkel bremst
Sarkozy bei Mittelmeer Union aus«. Doch mit den arabischen
Revolutionen verlor die Mittelmeer Union ihre »arabischen
Stützpfeiler«. Ägyptens gestürzter Präsident
Mubarak war neben Sarkozy Co- Präsident der Mittelmeer
Union. So war die Rebellion in Libyen ein willkommener Anlass,
den französischen Führungsanspruch erneut anzumelden.
An sich stand ein Sturz Gaddafis Ende 2010 ebenso wenig
auf der Agenda, wie der seiner Amtskollegen in Kairo oder
Tunis. Nach seiner »Abkehr vom Terrorismus« war
er von der Liste der Staaten der »Achse der Bösen«
ausdrücklich gestrichen worden. Sein Land lieferte zuverlässig
Öl zu Weltmarktpreisen, die Erlöse wurden zum Großteil
in den Kapitalstandorten Europas und den USA investiert und
Armutsflüchtlinge aus Afrika von der Mittelmeerküste
fern- und unter dem Beifall deutscher Politiker unterschiedlichster
Couleur in Lagern festgehalten. Dafür gab es Waffen und
Polizeiausrüstung – auch aus Deutschland.
Wer sollte den Krieg gegen Libyen führen? »Frankreich
hat dazu eine ganz klare Haltung: Die NATO ist dafür
nicht die geeignete Organisation. Es bedarf eines Mandats
der Vereinten Nationen.« So wurde der Krieg jenseits
der NATO-Strukturen begonnen und über Ad-hoc-Absprachen
zwischen französischen, britischen und amerikanischen
Streitkräften geregelt.
In Deutschland wurde der französische Führungsanspruch
registriert: »Dieser Waffengang dient ihm dazu, den
Anspruch auf die Führungsrolle Frankreichs in Europa
deutlich zu untermauern. Dafür setzt er auch militärische
Macht ein. Und deswegen waren am letzten Samstag die Aufklärungsmaschinen
der französischen Luftwaffe schon unterwegs, als die
Staats- und Regierungschefs in Paris noch beraten haben.«
Die FAZ ergänzte: »Die Franzosen, die erst vor
kurzem in die militärische Kommandostruktur des Bündnisses
zurückgekehrt sind, blockierten am Wochenende zunächst
eine Übernahme des Einsatzes durch die Nato. Begründet
wurde das mit den (tatsächlich bestehenden) Vorbehalten
der islamischen Welt gegen das Bündnis. Viele Diplomaten
vermuteten allerdings, dass Sarkozy seine Führungsrolle
nicht in den Schatten gestellt sehen wollte.« Durch
die Beteiligung Britanniens waren »die beiden militärisch
starken und handlungsbereiten Staaten zusammengebunden in
einer Allianz, die sicherlich über dieses Ereignis hinaus
Bestand haben kann.«
Schon vor dem Libyen Krieg hatten Frankreich und Britannien
ihre militärische Zusammenarbeit jenseits der Militär-Strukturen
der EU bilateral verstärkt, etwa in ihrem Abkommen zur
Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung von Atomwaffen, der
gemeinsamen Nutzung von Flugzeugträgern und der Gründung
einer gemeinsamen Truppe für internationale Einsätze.
»Die USA haben ein großes Interesse daran, die
Rolle als Weltpolizist beizubehalten – ohne Washington
soll in der Welt nichts Bedeutsames geschehen... Man hat seine
Spuren hinterlassen, hat klargemacht, dass die Europäer
es ja eigentlich doch nicht alleine können, hat das Bündnis
gerade mit Frankreich, das immer schwer war, verbessert, und
kann sich nun, nach einer Woche Krieg, in die zweite Reihe
zurückbegeben... Alle drei Hauptakteure im Libyen-Krieg
haben Interessen bedient, bei denen Libyen nur das Mittel
zum Zweck ist«, so die treffende Analyse von Rolf Clement
im Deutschlandfunk. Mit anderen Worten: Hier wird nicht um
Öl oder Menschenrechte gekämpft, sondern für
»höhere Ziele«, die eigene Position im »Zeitalter
der relativen Mächte« im Kampf um »ein neues
Gleichgewicht der Kräfte« – der französische
Präsident Sarkozy. Und diese Demonstration des eigenen
Anspruchs gelingt nur mit dem militärischen Sieg, weshalb
Verhandlungsbemühungen etwa der Afrikanischen Union von
vornherein zum Scheitern verurteilt sind.
Die UNO und Deutschlands Enthaltung
Einen Machtanspruch militärisch durchzusetzen, das reicht
heutzutage nicht. Aus dem Willen zu Intervention soll das
allseits anerkannte »Recht zur Intervention« werden.
Diese Anerkennung kann ein Anspruch auf Ordnungsmacht in der
UNO finden. Die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats verleiht
die Weihen des Völkerrechts. Zugleich akzeptieren die
im UN Sicherheitsrat vertretenen Mächte diesen Machtanspruch
– oder sie akzeptieren ihn nicht, wie im Fall der USA
beim Irak-Krieg 2003. Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates macht
deshalb aus einer militärischen Intervention nicht ein
selbstloses Handeln im Sinne der »Völkergemeinschaft«,
es ist vielmehr die Besiegelung eines Machtanspruchs. Es versteht
sich von selbst, dass es faktisch nur einem kleinen Kreis
von Mächten vorbehalten bleibt, im UN-Sicherheitsrat
ein Recht zur Intervention erfolgreich zu beantragen.
Russland, China, Brasilien, Indien und Deutschland haben
mit ihrer Enthaltung dem Anspruch von Frankreich und Britannien
die vollständige Anerkennung verweigert. Die Veto-Mächte
Russland und China haben gleichzeitig durch ihre Enthaltung
zu erkennen gegeben, dass sie diesen Konflikt nicht zu einer
Machtprobe werden lassen wollen. Das ist ihnen der »Fall
Libyen« offenbar nicht wert. Trotz des im Ergebnis positiven
Votums ist deshalb die Enthaltung dieser Länder nur eine
Anerkennung »2. Klasse«. Und genau das war auch
das Signal, das Deutschland geben wollte. Eine Zustimmung
zur Resolution ohne eine deutsche Beteiligung an der Militäraktion
wäre für eine der größten Militärmächte
Europas unangemessen.
»2. Klasse« sind aber auch die durch den Sicherheitsrat
mandatierten militärischen Maßnahmen: Wolfgang
Ischinger, zu rot-grünen Kosovo Kriegszeiten Staatssekretär
bei Joschka Fischer, weist auf eine »gewaltige strategisch-konzeptionelle
Lücke« hin, die »zwischen der politischen
Zielsetzung einerseits (›Gaddafi muss weg‹) und
dem restriktiven Mandat des UN-Sicherheitsrats zum Schutz
der Zivilbevölkerung andererseits klafft« und warnt:
»In Washington – und noch mehr in Moskau und Peking
– warten manche nur darauf, dass das europäische
Häuflein in Libyen eine militärisch-politische Bauchlandung
produziert«. Dem versuchen die kriegsführenden
Mächte dadurch zu entgehen, dass sie das Mandat »großzügig«
auslegen und z.B. gezielt mögliche Aufenthaltsorte von
Gaddafi bombardieren.
Auch in Berlin wird gewartet. Deutschland mochte der Demonstration
französisch-britischer Führungsmacht nicht die erwartete
Anerkennung zollen. Nur weil mit Frankreich ein enger Bündnispartner
Krieg führt, ist Deutschland noch lange nicht dabei,
erst recht nicht als subalterner Helfer: »Ich kann als
deutscher Außenminister nicht deutsche Soldaten nach
Libyen schicken, weil es andere tun«, erklärte
Westerwelle die deutsche Nichtbeteiligung vor dem EU-Außenministerrat.
Dafür gab es viel Kritik. Ex-Verteidigungsminister Volker
Rühe etwa kritisiert in einem Gastbeitrag in der FAZ
auf einer ganzen Seite die deutsche Enthaltung, weil sie Deutschland
ins Abseits stelle und die militärische Zusammenarbeit
in Europa behindere – um Libyen selbst geht es in diesem
Beitrag mit keinem Wort. Ähnlich Joschka Fischer, der
eine düstere Bilanz der deutschen Enthaltung zieht: »Der
Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz
im Sicherheitsrat wurde soeben endgültig in die Tonne
getreten«. Und er beschwört den Ordnungsanspruch
Deutschlands: »Wie der Balkan gehört die südliche
Gegenküste des Mittelmeers zur unmittelbaren Sicherheitszone
der EU. Es ist einfach nur naiv zu meinen, der bevölkerungsreichste
und wirtschaftlich stärkste Staat der EU könne und
dürfe sich da heraushalten. Wir reden bei dieser Region
über unmittelbare europäische und deutsche Sicherheitsinteressen«.
Auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
EU sieht er beschädigt: »Frankreich macht sich
mit Großbritannien in einer Koalition der Willigen selbständig«.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Deutschland ist »in
einer Zeit, in der sich die Machtverteilung auf der Welt zu
Ungunsten des Westens verschiebt, viel mehr auf sich allein
gestellt ist, als man das bisher sieht.« Deutschland
ist militärisch zu schwach: »Schon alleine die
Waffensysteme, die Briten und Franzosen für diese Kooperation
wählten, zeigen die Welten, die bis heute zwischen den
beiden Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und dem wiedervereinten
Deutschland liegen: Einen Flugzeugträger hat das größte
Mitgliedsland der EU überhaupt nicht in seinem Arsenal.
Den Deutschen fiel da nur noch ein, eine Kooperationsinitiative
mit Schweden zu starten, einem neutralen Land, das vor allem
für die Publikation von Friedensgutachten bekannt ist.«
Und Deutschland ist kriegsmüde: »80% der Deutschen
gegen eine militärische Intervention in Libyen«
muss die FAZ notieren.
Aus Westerwelles Auftreten gegen den Beginn des Libyen-Krieges
kann keineswegs abgeleitet werden, dass Deutschland zum internationalen
Kriegsdienstverweigerer mutiert und sich an künftigen
Kriegen nicht beteiligen wird. Volker Rühe kommt ganz
ohne prognostische Hilfsmittel zu der Einschätzung: »Es
bedarf keines Blickes in eine Glaskugel, um vorauszusagen,
dass sich die Bundeswehr im 21. Jahrhundert noch an vielen
Einsätzen beteiligen wird.« Der aktuelle Verteidigungsminister
Lothar de Maizière ist zudem davon überzeugt,
dass »Deutschland … in Zukunft von den Vereinten
Nationen mehr als bisher um den Einsatz von Soldaten auch
dann gebeten werden [wird], wenn keine unmittelbaren Interessen
Deutschlands erkennbar sind«. Nimmt man die Einsätze
hinzu, in denen unmittelbare Interessen Deutschlands erkennbar
sind, steht Einiges ins Haus. Der Verteidigungsminister spricht
Klartext: »Wir wollen Sicherheit gestalten. Gestalten
kann indes nur, wer über ein Konzept verfügt, wer
weiß was er will und über Fähigkeiten verfügt,
die diesem Anspruch auch wirklich genügen. Auch deshalb
muss die Bundeswehr in der Lage sein, mit ihren Fähigkeiten
einen wesentlichen Beitrag in der NATO, in der Europäischen
Union und in den Vereinten Nationen zu leisten, einen Beitrag,
der der Rolle und dem Gewicht Deutschland angemessen ist«.
Das Urheberrecht dieser Haltung gehört allerdings in
der Tat seinem Vor-Vorgänger Rühe, der bereits 1992
schrieb: »Wenn die internationale Rechtsordnung gebrochen
wird oder der Frieden gefährdet ist, muss Deutschland
auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische
Solidarbeiträge leisten können. Qualität und
Quantität der Beiträge bestimmen den politischen
Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die
deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden
können.«
Es lag und liegt in der Logik dieser Einschätzungen,
dass die Bundeswehr entsprechend vorbereitet wird. Dazu findet
gegenwärtig mal wieder eine Bundeswehrreform statt. Davon
gab es seit dem Ende des Kalten Kriege diverse, die stets
darauf hinausliefen, aus der Bundeswehr eine effiziente angriffsfähige
Armee zu machen, mit schnellen Eingreiftruppen, wie sie die
USA oder Frankreich schon seit den 1980er Jahren aufbauten.
Hier geht es um die zukünftige internationale Fähigkeit,
Macht auszuüben, was der FAZ-Redakteur Busse in seinem
Buch »Entmachtung des Westens« so beschreibt:
»Macht und Größe eines Landes werden in der
Weltpolitik zunehmend an der Fähigkeit gemessen, technisch
überlegene Expeditionstruppen in weit entfernte Einsatzgebiete
schicken zu können.«
Bundeswehr fit für Wirtschaftskriege machen
Wofür sollen die Expeditionstruppen eingesetzt werden?
In den letzten Jahren wurden Militäreinsätze stets
mit menschenrechtlichen Begründungen in die Wege geleitet,
wobei die offizielle Begründung der eigentlichen Motivation
nicht zwangsläufig entsprechen muss. Andererseits kann
man mit angriffsfähigen Expeditionsstreitkräften
natürlich auch Einsätze zur Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen
durchführen oder an geopolitischen Ordnungskriegen teilnehmen.
Das Mittel bleibt gleich, nur die Absicht mag sich unterscheiden.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) 2011 haben
beides im Angebot. Als deutsches »Sicherheitsinteresse«
definiert, »einen freien und ungehinderten Welthandel
sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen
Ressourcen zu ermöglichen.« Ein weiteres Interesse
ist, »für die internationale Geltung der Menschenrechte
und der demokratischen Grundsätze einzutreten…«
Entgegen dem Eindruck vieler ZeitgenossInnen ist das Thema
»Wirtschaftskrieg« ein alter Hut. Schon Volker
Rühe definierte in den 1992 von ihm erlassenen Verteidigungspolitischen
Richtlinien als »vitales Sicherheitsinteresse«
die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des
ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller
Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung«.
Auch im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 will die deutsche
Sicherheitspolitik »den freien und ungehinderten Welthandel
als Grundlage unseres Wohlstands … fördern«.
Auffällig ist aber, dass die VPR von Mai 2011 die Bedeutung
der Rohstoffabsicherung noch prominenter fassen: »Freie
Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung sind für
die Zukunft Deutschlands und Europas von vitaler Bedeutung.
Die Erschließung, Sicherung von und der Zugang zu Bodenschätzen,
Vertriebswegen und Märkten werden weltweit neu geordnet.
Verknappungen von Energieträgern und anderer für
Hochtechnologie benötigter Rohstoffe bleiben nicht ohne
Auswirkungen auf die Staatenwelt. Zugangsbeschränkungen
können konfliktauslösend wirken. Störungen
der Transportwege und der Rohstoff- und Warenströme,
z.B. durch Piraterie und Sabotage des Luftverkehrs, stellen
eine Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand dar.
Deshalb werden Transport- und Energiesicherheit und damit
verbundene Fragen künftig auch für unsere Sicherheit
eine wachsende Rolle spielen.« (S. 4f.) Damit steht
Thomas de Maizière in der Kontinuität seiner Vorgänger
und des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler,
der für diese seit langem bestehende Regierungsposition
geprügelt wurde.
Konkret will de Maizière die »Einsatzkräfte«
von bisher 7.000 auf 10.000 aufstocken. Daran überraschend
ist, dass es nur so wenig Einsatzkräfte der Bundeswehr
geben soll. 2006 waren es laut Bundeswehr-Weißbuch noch
35.000! Wie in anderen NATO-Armeen sind davon 1/3 zu einem
bestimmten Zeitpunkt einsatzfähig, das zweite Drittel
ruht sich vom Einsatz aus und das dritte Drittel bereitet
sich auf den nächsten Einsatz vor. Entsprechend kann
die Bundeswehr bereits jetzt fast 12.000 Soldaten zum Einsatz
bringen, nicht nur 7.000. Hans Rühle (ehemaliger Ministerialdirektor
im Bundesverteidigungsministerium) informiert am 10.5.2011
in der FAZ darüber, dass die Eingreifkräfte »inzwischen
sogar von 35.000 auf 50.000 aufgestockt« worden seien.
Entsprechend kann die Bundeswehr aktuell fast 17.000 Eingreifkräfte
einsetzen. Wenn nicht Tausende Bundeswehr-Soldaten desertiert
sind, haben wir es mit einer reinen Märchenstunde aus
dem Hause de Maizière zu tun.
Um die Gesamtzahl der für Auslandseinsätze vorgesehenen
Truppen zu erhalten, müssen zu den 50.000 Einsatzkräften
laut Weißbuch 2006 70.000 Stabilisierungskräfte
»für Einsätze niedriger und mittlerer Intensität
und längerer Dauer« addiert werden; hieraus wurden
insbesondere die ISAF-Soldaten für den Afghanistankrieg
gezogen. Kurzum: 120.000 Soldaten der Bundeswehr werden zur
Zeit für Auslandseinsätze vorgehalten! Aktuell hat
die Bundeswehr durch die bereits vollzogene Aussetzung der
Wehrpflicht nur noch eine Präsenzstärke von 221.000.
Wären also alle Einsatzkräfte und Stabilisierungskräfte
noch zugegen und nicht desertiert, so wären heute 54%
der Bundeswehr für Auslandseinsätze vorgesehen!
Hans Rühle bringt es auf den Punkt: »Keine Frage:
Eine Armee, die von 252.000 Soldaten lediglich 7.000 durchhaltefähig
in den Einsatz bringen könnte, wäre dringend reformbedürftig.
Nur hat diese Rechnung einen Schönheitsfehler: Sie ist
falsch. Die Zahl 7.000, die der ehemalige Verteidigungsminister…
Guttenberg als Beleg für die Dringlichkeit seiner Reformen
ins Feld führte, entspricht nicht den realen Fähigkeiten
der Bundeswehr. Die deutschen Streitkräfte können
mehr, als es die gegenwärtige Debatte vermuten lässt.«
Warum stapeln Guttenberg und Maizière so tief? Der
Grund ist finanzpolitischer Natur. Die Sparpläne der
Bundesregierung 2010 sahen vor, dass es – gestreckt
über vier Jahre – Einsparungen im Militärhaushalt
in Höhe von 8,3 Mrd. Euro geben sollte. Inzwischen ist
der Sparbeginn auf 2015 (!) verschoben worden, aber de Maizière
klagt immer noch über die »strukturelle Unterfinanzierung«
der Bundeswehr und gibt zu bedenken: »Die Neuausrichtung
der Bundeswehr muss auf einem soliden finanziellen Fundament
stehen. Sie muss nachhaltig finanzierbar sein.«
Offenbar haben sich de Maizière und Finanzminister
Schäuble bereits auf einen Buchungstrick verständigt:
Die Pensionskosten sollen aus dem Militäretat ausgelagert
werden. Jürgen Wagner von IMI befürchtet: »Denkbar
und bislang nicht ausgeschlossen wäre im schlimmsten
Fall, dass sämtliche Versorgungsansprüche dem Bundeshaushalt
aufgebürdet werden könnten. Damit wäre der
Rüstungsetat um einen riesigen Posten entlastet. Im derzeitigen
Haushaltsansatz 2011 sind hierfür 14,7% bzw. 4,63 Mrd.
Euro eingestellt. So könnte im Ergebnis ein solcher Buchungstrick
im schlimmsten Fall zu einer Erhöhung der Rüstungsausgaben
um ca. 2,5 Mrd. Euro jährlich führen. Sparen auf
Militärisch!« Nachdem der deutsche Rüstungsetat
von 27,8 Mrd. Euro im Jahr 2006 auf 31,548 Mrd. in diesem
Jahr (2011) angestiegen ist, sind weitere Erhöhungen
zu befürchten, um die »strukturelle Unterfinanzierung«
der Bundeswehr abzuwenden. Für das Jahr 2012 sind aktuell
31,68 Mrd Euro geplant. Das ist nicht die Budgetpolitik eines
internationalen Kriegsdienstverweigerers, sondern hier wird
die Basis für zukünftige Kriegsteilnahmen gelegt.
Uli Cremer und Wilhelm Achelpöhler haben 2007 die
GRÜNE Friedensinitiative mit gegründet. Uli Cremer
ist ein profunder NATO-Kenner und veröffentlichte 2009
im VSA: Verlag das Buch »Neue NATO: die ersten Kriege«.
Kontakt:
Uli Cremer 0160 / 81 21 622
cremer@gruene-friedensinitiative.de
Wilhelm Achelpöhler 0171 / 17 17 392
achelpoehler@gruene-friedensinitiative.de
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